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Beitrag von
Nafets (674 Beiträge) am Sonntag, 8.November.2020, 18:11.
F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die "Trauer"
Weiterleben
Nives Sunara hat vor drei Jahren ihren Mann verloren. Sie erzählt, wie sie und ihr Sohn mit der Trauer umgehen. Überwunden haben sie sie nicht.
Frau Sunara, Sie haben auf tragische Weise Ihren Mann verloren. Obgleich er immer einen gesunden Lebensstil führte, ist er an einem Herzinfarkt gestorben.
Von einem Augenblick auf den anderen hat sich vor dreieinhalb Jahren unser Leben verändert. Das war ein unfassbarer Schock, als der Anruf kam. Mein Sohn und ich konnten nicht Abschied nehmen. Mein Mann hat fünf Tage lang im Koma gelegen. Wir haben uns nicht mehr sprechen können.
Trauer in Worte zu fassen, das scheint ein Ding der Unmöglichkeit.
So empfinde ich das. Ich habe das als Weltuntergang erlebt. Als ich nach Achims Tod auf dem Parkplatz des Klinikums stand, haben die Vögel gesungen. Das zu hören war verstörend und schmerzhaft. Genauso wie viele andere gewohnte Alltagsgeräusche, das passt auf einmal alles nicht mehr zusammen. Die ersten Wochen waren wie unter einer Glasglocke. Ich konnte kein Fernsehen schauen, kein Buch lesen, hatte keine Konzentration. Es war unmöglich, mich abzulenken. Wenn ich in den Spiegel geschaut habe, habe ich mich nicht erkannt. Das hat mir Angst gemacht.
Aber Sie mussten funktionieren. Ihr Sohn war damals sieben Jahre alt.
Am Tag nach der Beerdigung ist er acht geworden. Als Mutter trauert man doppelt. Es zerreißt einem das Herz. Mein Sohn hatte so eine starke Sehnsucht. Als er einmal in einer Trampolinhalle war und ich ihn bat, vorsichtig zu sein, hat er gesagt: „Das ist mir egal, wenn ich sterbe, dann komme ich zu Papa.“
Sie sagen, dass Trauer unfassbar isoliert. Was meinen Sie damit?
Irgendwann nach der ersten großen Betroffenheit gehen die meisten wieder zur Tagesordnung über. Das verstehe ich natürlich. Aber es lässt einsam zurück. Ich habe nicht nur meinen Ehemann, sondern meinen besten Freund verloren. Wenn etwas Unangenehmes vorgefallen ist und ich nach Hause komme – da ist keiner, der das auffängt. Natürlich kann ich eine Freundin anrufen. Das ist aber nicht dasselbe. Ich muss jetzt alles mit mir selbst ausmachen.
Wie haben denn Ihre Mitmenschen kurz nach dem Tod reagiert?
Da war eine sehr große Anteilnahme. Es gab viele wohlwollende Aktionen: Uns wurde ständig Essen vorbeigebracht, Kuchen, Waffeln, Blumen wurden vor die Haustür gelegt. Mein Kind wurde ständig eingeladen, in den Zoo, ins Fußballstadion und so weiter. Andere Eltern, besonders die Väter seiner Freunde, haben vielfach angeboten, ihn mitzunehmen. Wir hatten fast ein Überangebot. Das hörte so etwa nach vier Monaten auf.
Das Verständnis für Ihren Schmerz schwand?
Ich spürte auf jeden Fall Druck. Die Erwartung, schnell zurückzukehren zu einem normalen Alltag. Sätze wie „Das hätte Achim doch gar nicht gewollt“, „Denk doch mal an deinen Sohn“, „Zieh doch mal etwas Helles an“ fielen. In den ersten Monaten wäre es mir so zuwider gewesen, eine gelbe Bluse anzuziehen. „Du bist noch jung, du bleibst ganz bestimmt nicht für immer allein“ – solche Äußerungen waren nicht selten und wurden bestimmt in bester Absicht ausgesprochen. Für Trauernde hören sie sich unerträglich an.
Haben alle Ihre Freundschaften von früher überlebt?
Nein, einige haben sich zurückgezogen. Wir sind uns zu fremd geworden. Aber es haben sich auch neue und unerwartete Freundschaften ergeben. In einer besonderen Tiefe.
Was hat Ihnen geholfen, die Trauer zu überwinden?
Überwinden ist vielleicht das falsche Wort. Mir haben grundsätzlich Gespräche mit Freunden und auch mit Fremden geholfen. Mit meiner Trauerbegleiterin Maria Pirch. Mit einer Krankenhauspfarrerin oder der Austausch mit einem älteren Herrn, Mitte 80. Er wollte sich das Leben nehmen nach dem Tod seiner Frau und hat mir einen Satz mitgegeben, der mich sehr berührt bis heute: „Irgendwann kommt der Punkt, an dem Sie sich entscheiden müssen, ob Sie untergehen wollen oder ob Sie weiterleben wollen. Sollten Sie sich fürs Weiterleben entscheiden, müssen Sie aber unbedingt darauf achten, dass es auch wirklich ein Leben ist und nicht nur ein Weiter.“ Bei einem Urlaub in Kroatien, wo meine Eltern herkommen, sagte eine Italienerin: „Du bist eine starke Frau. Das sehen wir alle. Ich weiß, du siehst das jetzt nicht.“ Diese Begegnungen haben mich nachdenklich gemacht, angeschubst.
Was haben solche Gespräche denn noch ausgelöst?
Sie haben dazu beigetragen, dass mein Sohn und ich beschlossen haben, das weltbeste Überlebensteam zu werden. Ich lebe, und ich werde gebraucht. Mein Kind braucht den Blick in das Gesicht einer Mutter, die Stärke, Zuversicht und das Gefühl vermittelt: Du kannst dich auf mich verlassen, ich bekomme unser neues Leben hin. Gerade Jungs wollen Verantwortung übernehmen, fragen zu oft: Mama, wie geht es dir? Und Kinder brauchen eine Mutter, die wieder lachen, sich übers Leben freuen kann.
Das klingt Mut machend. Aber den Mut mussten Sie sich selbst machen?
Schon jeden Morgen aufzustehen war ein Kraftakt. Ich hatte auch Angst, depressiv zu werden. Aus Gedanken werden Gefühle. Dagegen habe ich mich gewehrt. In den ersten Wochen habe ich oft hemmungslos geweint. Dann wollte ich die Traurigkeit kontrollieren und hatte mir immer wieder vorgenommen, abends zu weinen, wenn mein Sohn schlief. Ich wusste aber, ich muss eine andere Haltung einnehmen; man lernt irgendwann, die traurigen Momente auszuhalten. Es gibt ja auch keine Alternative für eine Mutter.
Ihr Mann war nicht nur Leiter einer Lokalredaktion, sondern ein begabter Amateurfußballer. Welche Rolle spielt der Sport für Sie?
Unmittelbar nach Achims Tod eine entscheidende. Bis zur Erschöpfung in die Pedale zu treten, mich abzuschuften am Berg, ins Grüne gucken, in strömendem Regen ein Beet umbuddeln hat mir gerade in den ersten Monaten geholfen, mich wieder zu spüren und zu beruhigen. Von älteren Witwen weiß ich, dass sie zweimal am Tag in die Stadt fahren. Hauptsache, man kommt raus. All das hilft.
Es hilft, weil es dem traurigen Tag Struktur gibt?
Struktur ist wichtig. Das ist ein Vorteil, wenn man noch ein vergleichsweise kleines Kind hat. Es muss zur Schule, zum Training, man muss einkaufen, kochen, organisieren. Und trotz allem sind da immer schmerzhafte Momente. So, wenn bei Fußballspielen begeisterte Väter am Rand stehen. Aber mein Kind erträgt das. Dann muss ich das auch ertragen. Das zu erkennen war ein Wendepunkt.
Was wünschten Sie sich von anderen?
Trauernde möchten erzählen. Sie
brauchen Zuhörer, die einfach da sind, nicht unterbrechen oder Ratschläge geben, sondern sagen: „Du hast es auch schwer. Ja, es ist scheiße.“ Was gar nicht geht, ist der Satz: „Du meldest dich, wenn du etwas brauchst.“ Dafür fehlt Trauernden die Kraft. Sie leben in einer Parallelwelt.
Ihr Sohn hat eine Zeitlang eine Gruppe für trauernde Kinder besucht.
Für ihn war das befreiend und die Erkenntnis sehr wichtig, dass er nicht das einzige Kind ist, das seinen Papa verloren hat. Wenn Trauer geteilt werden kann, wirkt es erleichternd. Mein Sohn hat seine Trauer auch verarbeitet, indem er an unserer Straße einen kleinen Tierfriedhof angelegt hat, dort liegt zum Beispiel eine tote Amsel begraben.
Sie halten Kontakt zu verwitweten Menschen.
In den ersten schweren Monaten haben sie mir mit Rat und Tat zu Seite gestanden. Ich erlebte fröhliche Menschen, die wieder glücklich geworden sind: Schaut uns an, es wird besser. Sie strahlen Lebendigkeit aus und Lust aufs Leben. Resilienz ist für mich viel mehr als ein Schlagwort. Ich möchte mich in Zukunft ehrenamtlich in der Trauerarbeit engagieren und anderen im besten Fall Hoffnung geben.
Gibt es Tage, die Ihnen besonders schwerfallen?
Die wird es immer geben. Der Todestag, Geburtstage, Feiertage und zwischendurch Momente, in denen eine Erinnerung besonders weh tut, Achim fehlt. In den ersten zwei Jahren waren es besonders die bleiernen Tage am Wochenende. Wenn uns Familien begegneten im Kino oder im Schwimmbad, blieb das lange Zeit schwierig, weil es uns immer wieder unseren Verlust vorführte. Mittlerweile fühlen sich die Sonntage richtig gut an.
Plötzlich sind Sie alleinerziehend.
Es ist immer leichter, Hand in Hand durchs Leben zu gehen und nicht jede Entscheidung allein zu treffen, die komplette Verantwortung zu tragen. Eine Botschaft liegt mir am Herzen: Es ist wichtig für Frauen, abgesichert zu sein. Von anderen Witwen weiß ich, wie heftig die Existenzangst sein kann. Zum Glück habe ich immer schon gearbeitet. Das gibt Sicherheit.
Gestärkt durch die Krise, dieser Satz fällt in Corona-Zeiten häufig. Können Sie damit etwas anfangen?
Das sagt sich so leicht. Der Tod ist nicht nur Schmerz, sondern auch eine Riesenenttäuschung. Dass das Leben so völlig anders verläuft, als man sich das vorgestellt und gewünscht hat, damit muss man auch erst klarkommen. Das gilt nicht nur für Trauernde. Glück ist so zerbrechlich. Jeden Tag so fröhlich zu sein, wie es nur geht – das ist eine kostbare Erkenntnis. Noch eines hat sich verändert. Ich mache privat nichts mehr aus Höflichkeit und halte mich von Menschen fern, die mir nicht guttun. Ich erlebe neue Freiheiten, weil ich alles unter dem Aspekt der Lebenszeitverschwendung abwäge.
Sie lächeln, wenn Sie den Namen Ihres Mannes aussprechen.
Das ist die schönste Erkenntnis. Er hat viel Liebe hinterlassen bei uns. Das bleibt. Es ist ein neues Leben, und ich will, dass es das beste Leben ist, das wir jetzt führen können. Wir nennen uns übrigens schon lange nicht mehr weltbestes Überlebensteam, sondern weltbestes Spaßteam, weil Überleben auf Dauer nicht ausreicht.
Die Fragen stellte Ursula Kals.
Dein Beitrag:
Beitrag von
Nafets (674 Beiträge) am Sonntag, 8.November.2020, 18:11.
F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die "Trauer"
Weiterleben
Nives Sunara hat vor drei Jahren ihren Mann verloren. Sie erzählt, wie sie und ihr Sohn mit der Trauer umgehen. Überwunden haben sie sie nicht.
Frau Sunara, Sie haben auf tragische Weise Ihren Mann verloren. Obgleich er immer einen gesunden Lebensstil führte, ist er an einem Herzinfarkt gestorben.
Von einem Augenblick auf den anderen hat sich vor dreieinhalb Jahren unser Leben verändert. Das war ein unfassbarer Schock, als der Anruf kam. Mein Sohn und ich konnten nicht Abschied nehmen. Mein Mann hat fünf Tage lang im Koma gelegen. Wir haben uns nicht mehr sprechen können.
Trauer in Worte zu fassen, das scheint ein Ding der Unmöglichkeit.
So empfinde ich das. Ich habe das als Weltuntergang erlebt. Als ich nach Achims Tod auf dem Parkplatz des Klinikums stand, haben die Vögel gesungen. Das zu hören war verstörend und schmerzhaft. Genauso wie viele andere gewohnte Alltagsgeräusche, das passt auf einmal alles nicht mehr zusammen. Die ersten Wochen waren wie unter einer Glasglocke. Ich konnte kein Fernsehen schauen, kein Buch lesen, hatte keine Konzentration. Es war unmöglich, mich abzulenken. Wenn ich in den Spiegel geschaut habe, habe ich mich nicht erkannt. Das hat mir Angst gemacht.
Aber Sie mussten funktionieren. Ihr Sohn war damals sieben Jahre alt.
Am Tag nach der Beerdigung ist er acht geworden. Als Mutter trauert man doppelt. Es zerreißt einem das Herz. Mein Sohn hatte so eine starke Sehnsucht. Als er einmal in einer Trampolinhalle war und ich ihn bat, vorsichtig zu sein, hat er gesagt: „Das ist mir egal, wenn ich sterbe, dann komme ich zu Papa.“
Sie sagen, dass Trauer unfassbar isoliert. Was meinen Sie damit?
Irgendwann nach der ersten großen Betroffenheit gehen die meisten wieder zur Tagesordnung über. Das verstehe ich natürlich. Aber es lässt einsam zurück. Ich habe nicht nur meinen Ehemann, sondern meinen besten Freund verloren. Wenn etwas Unangenehmes vorgefallen ist und ich nach Hause komme – da ist keiner, der das auffängt. Natürlich kann ich eine Freundin anrufen. Das ist aber nicht dasselbe. Ich muss jetzt alles mit mir selbst ausmachen.
Wie haben denn Ihre Mitmenschen kurz nach dem Tod reagiert?
Da war eine sehr große Anteilnahme. Es gab viele wohlwollende Aktionen: Uns wurde ständig Essen vorbeigebracht, Kuchen, Waffeln, Blumen wurden vor die Haustür gelegt. Mein Kind wurde ständig eingeladen, in den Zoo, ins Fußballstadion und so weiter. Andere Eltern, besonders die Väter seiner Freunde, haben vielfach angeboten, ihn mitzunehmen. Wir hatten fast ein Überangebot. Das hörte so etwa nach vier Monaten auf.
Das Verständnis für Ihren Schmerz schwand?
Ich spürte auf jeden Fall Druck. Die Erwartung, schnell zurückzukehren zu einem normalen Alltag. Sätze wie „Das hätte Achim doch gar nicht gewollt“, „Denk doch mal an deinen Sohn“, „Zieh doch mal etwas Helles an“ fielen. In den ersten Monaten wäre es mir so zuwider gewesen, eine gelbe Bluse anzuziehen. „Du bist noch jung, du bleibst ganz bestimmt nicht für immer allein“ – solche Äußerungen waren nicht selten und wurden bestimmt in bester Absicht ausgesprochen. Für Trauernde hören sie sich unerträglich an.
Haben alle Ihre Freundschaften von früher überlebt?
Nein, einige haben sich zurückgezogen. Wir sind uns zu fremd geworden. Aber es haben sich auch neue und unerwartete Freundschaften ergeben. In einer besonderen Tiefe.
Was hat Ihnen geholfen, die Trauer zu überwinden?
Überwinden ist vielleicht das falsche Wort. Mir haben grundsätzlich Gespräche mit Freunden und auch mit Fremden geholfen. Mit meiner Trauerbegleiterin Maria Pirch. Mit einer Krankenhauspfarrerin oder der Austausch mit einem älteren Herrn, Mitte 80. Er wollte sich das Leben nehmen nach dem Tod seiner Frau und hat mir einen Satz mitgegeben, der mich sehr berührt bis heute: „Irgendwann kommt der Punkt, an dem Sie sich entscheiden müssen, ob Sie untergehen wollen oder ob Sie weiterleben wollen. Sollten Sie sich fürs Weiterleben entscheiden, müssen Sie aber unbedingt darauf achten, dass es auch wirklich ein Leben ist und nicht nur ein Weiter.“ Bei einem Urlaub in Kroatien, wo meine Eltern herkommen, sagte eine Italienerin: „Du bist eine starke Frau. Das sehen wir alle. Ich weiß, du siehst das jetzt nicht.“ Diese Begegnungen haben mich nachdenklich gemacht, angeschubst.
Was haben solche Gespräche denn noch ausgelöst?
Sie haben dazu beigetragen, dass mein Sohn und ich beschlossen haben, das weltbeste Überlebensteam zu werden. Ich lebe, und ich werde gebraucht. Mein Kind braucht den Blick in das Gesicht einer Mutter, die Stärke, Zuversicht und das Gefühl vermittelt: Du kannst dich auf mich verlassen, ich bekomme unser neues Leben hin. Gerade Jungs wollen Verantwortung übernehmen, fragen zu oft: Mama, wie geht es dir? Und Kinder brauchen eine Mutter, die wieder lachen, sich übers Leben freuen kann.
Das klingt Mut machend. Aber den Mut mussten Sie sich selbst machen?
Schon jeden Morgen aufzustehen war ein Kraftakt. Ich hatte auch Angst, depressiv zu werden. Aus Gedanken werden Gefühle. Dagegen habe ich mich gewehrt. In den ersten Wochen habe ich oft hemmungslos geweint. Dann wollte ich die Traurigkeit kontrollieren und hatte mir immer wieder vorgenommen, abends zu weinen, wenn mein Sohn schlief. Ich wusste aber, ich muss eine andere Haltung einnehmen; man lernt irgendwann, die traurigen Momente auszuhalten. Es gibt ja auch keine Alternative für eine Mutter.
Ihr Mann war nicht nur Leiter einer Lokalredaktion, sondern ein begabter Amateurfußballer. Welche Rolle spielt der Sport für Sie?
Unmittelbar nach Achims Tod eine entscheidende. Bis zur Erschöpfung in die Pedale zu treten, mich abzuschuften am Berg, ins Grüne gucken, in strömendem Regen ein Beet umbuddeln hat mir gerade in den ersten Monaten geholfen, mich wieder zu spüren und zu beruhigen. Von älteren Witwen weiß ich, dass sie zweimal am Tag in die Stadt fahren. Hauptsache, man kommt raus. All das hilft.
Es hilft, weil es dem traurigen Tag Struktur gibt?
Struktur ist wichtig. Das ist ein Vorteil, wenn man noch ein vergleichsweise kleines Kind hat. Es muss zur Schule, zum Training, man muss einkaufen, kochen, organisieren. Und trotz allem sind da immer schmerzhafte Momente. So, wenn bei Fußballspielen begeisterte Väter am Rand stehen. Aber mein Kind erträgt das. Dann muss ich das auch ertragen. Das zu erkennen war ein Wendepunkt.
Was wünschten Sie sich von anderen?
Trauernde möchten erzählen. Sie
brauchen Zuhörer, die einfach da sind, nicht unterbrechen oder Ratschläge geben, sondern sagen: „Du hast es auch schwer. Ja, es ist scheiße.“ Was gar nicht geht, ist der Satz: „Du meldest dich, wenn du etwas brauchst.“ Dafür fehlt Trauernden die Kraft. Sie leben in einer Parallelwelt.
Ihr Sohn hat eine Zeitlang eine Gruppe für trauernde Kinder besucht.
Für ihn war das befreiend und die Erkenntnis sehr wichtig, dass er nicht das einzige Kind ist, das seinen Papa verloren hat. Wenn Trauer geteilt werden kann, wirkt es erleichternd. Mein Sohn hat seine Trauer auch verarbeitet, indem er an unserer Straße einen kleinen Tierfriedhof angelegt hat, dort liegt zum Beispiel eine tote Amsel begraben.
Sie halten Kontakt zu verwitweten Menschen.
In den ersten schweren Monaten haben sie mir mit Rat und Tat zu Seite gestanden. Ich erlebte fröhliche Menschen, die wieder glücklich geworden sind: Schaut uns an, es wird besser. Sie strahlen Lebendigkeit aus und Lust aufs Leben. Resilienz ist für mich viel mehr als ein Schlagwort. Ich möchte mich in Zukunft ehrenamtlich in der Trauerarbeit engagieren und anderen im besten Fall Hoffnung geben.
Gibt es Tage, die Ihnen besonders schwerfallen?
Die wird es immer geben. Der Todestag, Geburtstage, Feiertage und zwischendurch Momente, in denen eine Erinnerung besonders weh tut, Achim fehlt. In den ersten zwei Jahren waren es besonders die bleiernen Tage am Wochenende. Wenn uns Familien begegneten im Kino oder im Schwimmbad, blieb das lange Zeit schwierig, weil es uns immer wieder unseren Verlust vorführte. Mittlerweile fühlen sich die Sonntage richtig gut an.
Plötzlich sind Sie alleinerziehend.
Es ist immer leichter, Hand in Hand durchs Leben zu gehen und nicht jede Entscheidung allein zu treffen, die komplette Verantwortung zu tragen. Eine Botschaft liegt mir am Herzen: Es ist wichtig für Frauen, abgesichert zu sein. Von anderen Witwen weiß ich, wie heftig die Existenzangst sein kann. Zum Glück habe ich immer schon gearbeitet. Das gibt Sicherheit.
Gestärkt durch die Krise, dieser Satz fällt in Corona-Zeiten häufig. Können Sie damit etwas anfangen?
Das sagt sich so leicht. Der Tod ist nicht nur Schmerz, sondern auch eine Riesenenttäuschung. Dass das Leben so völlig anders verläuft, als man sich das vorgestellt und gewünscht hat, damit muss man auch erst klarkommen. Das gilt nicht nur für Trauernde. Glück ist so zerbrechlich. Jeden Tag so fröhlich zu sein, wie es nur geht – das ist eine kostbare Erkenntnis. Noch eines hat sich verändert. Ich mache privat nichts mehr aus Höflichkeit und halte mich von Menschen fern, die mir nicht guttun. Ich erlebe neue Freiheiten, weil ich alles unter dem Aspekt der Lebenszeitverschwendung abwäge.
Sie lächeln, wenn Sie den Namen Ihres Mannes aussprechen.
Das ist die schönste Erkenntnis. Er hat viel Liebe hinterlassen bei uns. Das bleibt. Es ist ein neues Leben, und ich will, dass es das beste Leben ist, das wir jetzt führen können. Wir nennen uns übrigens schon lange nicht mehr weltbestes Überlebensteam, sondern weltbestes Spaßteam, weil Überleben auf Dauer nicht ausreicht.
Die Fragen stellte Ursula Kals.
Beitrag von
maks2708 (388 Beiträge) am Montag, 9.November.2020, 16:35.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die "Trauer"
Ein wirklich guter Text, den ich ohne Änderung unterschreiben könnte. Ja, der Tod ist eine riesige Enttäuschung. Auch ich habe in den ersten Jahren nach dem Verlust privat nichts mehr aus Höflichkeit gemacht, habe mit damaligen Freunden gebrochen, die mir nicht gut taten, die mich nicht verstanden haben. Und möchte auch heute noch keine Lebenszeit mit Menschen verschwenden, welche mir nichts bedeuten. Und ganz wichtig finde ich den Satz "Sollten Sie sich fürs Weiterleben entscheiden, müssen Sie aber unbedingt darauf achten, dass es auch wirklich ein Leben ist und nicht nur ein Weiter.“ Aber genau dies hat gedauert, lange gedauert. Am Anfang galt es nur zu atmen, zu essen, zu schlafen. Damit das "weiter" funktioniert. Die Sache mit "dem Leben" kam dann erst eine ganze Weile danach.
Beitrag von
conny2 (1569 Beiträge) am Mittwoch, 11.November.2020, 12:27.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Und ganz wichtig finde ich den Satz "Sollten Sie sich fürs Weiterleben entscheiden, müssen Sie aber unbedingt darauf achten, dass es auch wirklich ein Leben ist und nicht nur ein Weiter. * Hm, liebe maks2708. Die Frage ist doch, wie man das macht, darauf zu achten, dass es auch wirklich ein Leben ist und nicht nur ein Weiter? Und was ist überhaupt „nur ein Weiter“ und wodurch unterscheidet es sich von „einem Leben“? Ich vermute, dass der Ratgeber da auch nur seine eigenen Vorstellungen hat, die sich kaum verallgemeinern lassen. Denn selbstverständlich ist JEDES Weiterleben außer dem Weiter auch ein Leben. Über die Beschaffenheit des einen wie des anderen ist damit nichts gesagt. Vermutlich meint es der Ratgeber aber so, dass man sich, nachdem man sich für das Weiterleben entschieden hat, wieder für die schönen Seiten des Lebens öffnen solle, weil es sonst nichts mehr rechtes würde. Mag sein; nichts dagegen. Gleichwohl geht das, jedenfalls bei mir, nicht ohne weiteres und schon gar nicht ohne Wehmut. Denn der Mensch, mit dem man (ich) die schönen Seiten des Lebens genossen hat und noch lange genießen wollte, ist nicht mehr da, jedenfalls nicht in Fleisch und Blut. Das ist und bleibt der nicht wegzudiskutierende und jederzeit präsente Sachverhalt, mit dem man umzugehen hat, guter Rat für das weitere Leben hin oder her. Es gilt, glaube ich, sich in dieser Lage sinnvoll einzurichten. Das ist eine ganze Menge. Ein bloßes „Weiter,“ welches nicht erstrebenswert sein soll, erkenne ich darin aber nicht.
*** editiert von conny2 am Mittwoch, 11.11.2020, 12:32 ***
Beitrag von
Nafets (674 Beiträge) am Mittwoch, 11.November.2020, 15:17.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Lieber conny2,
auch auf die Gefahr, mich zu wiederholen, möchte ich doch noch einmal einen m.E. wesentlichen Gesichtspunkt betonen, nämlich den der sozialen und finanziellen "Absicherung", den ein Teil von uns hat, aber ein anderer Teil eben nicht (!).
Und deshalb darf man den Satz, der in dem FAZ-Interview vor Deinem Zitat ("Sollten Sie sich fürs Weiterleben entscheiden, ...") gestanden hat, hier nicht einfach weglassen. Der hieß nämlich: „Irgendwann kommt der Punkt, an dem Sie sich entscheiden müssen, ob Sie untergehen wollen oder ob Sie weiterleben wollen."
Anderes ausgedrückt, ging es also der interviewten Witwe offenbar so: Wenn du jetzt nichts tust und und dein Leben wieder aktiv in die eigene Hand nimmst, sondern es einfach so weiter laufen lässt, gehst du unter und bist existenziell ruiniert .... Weil es keine Absicherung gibt und du sonst alles, schlimmstenfalls wirklich a l l e s verlierst ...
Das ist ein noch viel grundlegenderer Existenzkampf als die Verarbeitung des Partnerverlustes für sich allein... es ist aber möglicherweise dessen Folge, vor allem wenn der/die Verstorbene bis dato alles materiell und/oder seelisch unterstützend mit "abgesichert" hatte und diese Sicherheit nun ausfällt ...
Ich kann mich an eigene Phasen totaler Überforderung noch sehr gut erinnern, in denen - nach einer überaus großen, a k t i v abzuarbeitenden beruflichen "Investition" parallel zur Krankheitsgeschichte und zum Tod meiner Frau - ein schlichtes "weiter so" im empfundenen Elend mich tatsächlich hätte untergehen lassen, in denen ich unbedingt wieder aktiv voranschreiten musste und es ganz erheblicher neuer Motivation (wenn schon nicht in Gestalt neuer "Träume", aber doch neuer "Wünsche" und neu anzustrebender "Ziele" des L e b e n s) bedurfte, um überhaupt wieder aufzustehen und den unausweichlichen Anforderungen genügen und standzuhalten zu können ...
Und wenn ich die Beiträge anderer richtig verstehe, war ich mit solchermaßen empfundenem Existenzdruck nicht ganz alleine. Ich will über mögliche Steigerungsformen von "schlimm" hier nicht im Detail streiten, aber doch sagen, dass manche von uns in bestimmten Momenten sehr viel mehr an Kraft und Energie, aber auch neuer Anschubmotivation als vielleicht andere benötigten, um neben aller Trauer überhaupt zu überleben. Wenn man es nicht selbst so arg krass miterlebt hat, kann man es sich vielleicht gar nicht so differenziert und so existenziell kraftauszehrend vorstellen ... Jenseits der Grenze einer (zumindest empfundenen) totalen Erschöpfung und Überforderung wird es nicht nur extrem schwierig, sondern manchmal lebensgefährlich ... ...
Mit freundschaftl. Gruß Stephan
*** editiert von Nafets am Mittwoch, 11.11.2020, 15:23 ***
Beitrag von
Sansibar (185 Beiträge) am Mittwoch, 11.November.2020, 19:12.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Conny2 schrieb: ....Vermutlich meint es der Ratgeber aber so, dass man sich, nachdem man sich für das Weiterleben entschieden hat, wieder für die schönen Seiten des Lebens öffnen solle, weil es sonst nichts mehr rechtes würde. .....
Das glaube ich nicht, dass das so gemeint ist und da spreche ich aus eigener Erfahrung. Sich dem Leben wieder öffnen: ja. Aber das Leben hält ja nicht nur Schönes bereit. Das Leben wieder anpacken wollen, heißt für mich, mit allem was da noch kommen mag. Und ja, es ist m.E. eine bewusste Entscheidung. Bei mir war es so. Irgendwann hatte ich genug vom ständigen Trauerkreisen. Neben der Trauer habe ich mein Leben manchmal fast unmerklich, Schritt für Schritt auf eine ganz neue Basis gestellt. Es ist mein Leben geworden. Wenn ich die letzten Jahre auf mein Leben zurück schaue, dann hat die Trauer mir geholfen wieder auf die Füße zu kommen. Sie hat sich nicht bei mir eingenistet und ich denke, das hatte sie auch nie vor, auch wenn ich das in der Vergangenheit oft dachte.
*** editiert von Sansibar am Mittwoch, 11.11.2020, 19:22 ***
Beitrag von
conny2 (1569 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 10:26.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
@sansibar
Irgendwann hatte ich genug vom ständigen Trauerkreisen. * Wer nicht? Aber man kreist ja nicht aus eigenem Entschluss, sondern weil in unserem Gehirn das limbische System die Kreise zieht, größtenteils ohne unser Zutun, wie ich vermute. Aber schön, wenn sich der orbifrontale cortex wieder einmischt und einem die Kontrolle über sich selbst zumindest teilweise zurückgibt. Jedoch tut er das wohl nicht unter Zuhilfenahme der Trauer. Jedenfalls glaube ich nicht, dass einem die Trauer als solche helfen kann, wieder auf die Füße zu kommen, denn das ist m.E. nicht ihr Job in dem ganzen Geschehen. Zum auf die Füße kommen braucht man so vieles, was die Trauer nicht geben kann: Zuversicht, Sicherheit, Lebensmut, Stärke, nach vorne strebende Energie, Einlassungs- und Risikobereitschaft und und und. Mit alldem hat es die Trauer nicht so, wie ich zuverlässig weiß. Trauer besteht eher in einem einen Mangel an alldem. Darauf hat der Ratgeber vermutlich angespielt, als er von einem bloßen „Weiter“ abriet, im Gegensatz zu einem "Weiterleben", in dem die Trauer jedenfalls nicht die Hauptrolle spielt, wie Du ganz richtig bemerkst. Das ändert aber nichts daran, dass wir es nicht wirklich in der Hand haben, wie wir es halten wollen. Und wer, wie ich, ein sehr anhänglicher Mensch ist, für den hat die Trauer in seinem Weiterleben eben einen anderen Stellenwert, als jemand, der so stark ist, dass er sich sagen kann: „Nun ist es aber genug damit.“ Gleichwohl ist auch Naturen meiner Art und Güte die Zukunft nicht verbaut, weshalb ich dem Rat, dass man darauf achten müsse, dass es nicht beim Weiter bleiben dürfe, sondern ein Weiterleben werden müsse, nicht wirklich folgen kann. Es kommt, wie gesagt, darauf an, wie man gestrickt ist. Und das müssen wir nehmen wie es ist; Änderungen sind nicht ausgeschlossen, aber selten spektakulär und Ratschlägen von außen eher unzugänglich.
Beitrag von
blackeyes (1580 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 11:00.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
• Und wer, wie ich, ein sehr anhänglicher Mensch ist, für den hat die Trauer in seinem Weiterleben eben einen anderen Stellenwert, als jemand, der so stark ist, dass er sich sagen kann: „Nun ist es aber genug damit.“ ...Es kommt, wie gesagt, darauf an, wie man gestrickt ist.•
So empfinde ich das auch, lieber conny, und ich möchte sogar so weit gehen zu behaupten, dass besagter Ratgeber möglicherweise nur halb so viel über seine Aussage nachgedacht hat, wie wir versucht sind, hineinzuinterpretieren. Vielleicht wollte er wirklich nur einfach einen guten Rat geben, einen etwas feinsinnigeren als die übrige Welt halt ;).
LG
Beitrag von
Nafets (674 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 13:59.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Lieber conny2, liebe blackeyes,
ich widerspreche Euch gar nicht in Euren Kernaussagen, möchte aber dennoch auf einen nicht unerheblichen Unterschied hinweisen:
Ihr sprecht - auf einer vielleicht schwierigen, aber doch sicheren Basis - nur unterschiedliche Aspekte des L e b e n s in möglichen Differenzierungen mit stärker oder weniger stark empfundener Trauer an.
Ich habe in dem F.A.Z-Artikel einem anderen Satz noch viel gewichtigere Bedeutung beigemessen, weil er wohl sehr ernst gemeint war. Da stand nämlich: "Er wollte sich das Leben nehmen" ...
Damit stand doch m.E. - abweichend zu Eurem Diskurs und auf einer noch ganz anderen Ebene, nämlich im "Grenzbereich zw. Leben und Tod" (oder ähnlich schlimm empfundenem seelischen/wirtschaftlichen Untergang), sehr viel stärker die Alternative im Vordergrund: Du kommst aus dieser fundamentalen "Depression" (dem Gefühl, es macht alles keinen Sinn mehr und ich gehe unter) nur dann dauerhaft raus, wenn du wirklich etwas veränderst, innen in dir drin und/oder draußen um dich herum, hin zur Wiederteilnahme an echtem Leben. Schaffst du diese Veränderung nicht, wenigstens eine positivere Einstellung zum Leben zu finden, und geht es einfach nur "weiter" (zu deutsch: du willst zwar nicht mehr depressiv sein, kommst aber aus dieser Misere nicht wirklich wieder raus), gehst du ggf. existenziell unter, schlimmstenfalls um den Verlust des eigenen Lebens ...
Ich weiß, man kann das eine nicht gegen das andere abwägen - aber ich halte diesen Punkt für sehr viel existenzieller und gefährlicher, als es in den letzten Beiträgen über bloße Graduierungen von Trauer teilweise anklang.
Zwischen einem "Überlebensteam" und einem "Schönerlebensteam" können ganze existenzielle Welten liegen.
Liebe Sansibar: "Irgendwann hatte ich genug vom ständigen Trauerkreisen." Ja, das würde ich von mir auch gerne sagen wollen. Aber es gibt hier und da doch immer noch Tage, da empfinde ich es ganz anders. Da ist noch nicht alles, was aktuell so stattfindet, ganz authentisch gefühlt "mein Leben" geworden, sondern doch noch ungewollt fremd.
Das berühmte Zitat von Oliver Kahn, an seine Mitspieler herausgebrüllt kurz vor Ende eines ganz wichtigen Spiels: „Niemals aufgeben! Immer weitermachen! Immer weiter! Immer weiter!“ Es setzt doch in Wahrheit voraus, das die, die da angesprochen werden, noch einen Willen und restliche Kraftreserven haben, etwas zusätzlich aus sich herauszuholen, und darauf vertrauen, an dem, was gerade so nachteilig ist, doch noch etwas positiv verändern zu können. Man braucht also eine Gewinnermentalität ("ich schaffe das") - jegliches resignierende Verharren in einer "Defizitorientierung" wäre demgegenüber extrem schlecht ... weil dann "weiter, immer weiter" bedeuten würde, es bleibt so schlecht und perspektivlos, wie es bisher scheint ... und es macht alles gar keinen Sinn mehr ... Oder noch ganz anders: "Mentales Training" ist sogar im Sport manchmal noch sehr viel wichtiger als pures Krafttraining ...
Der Wille zur Wiederteilnahme oder jedenfalls weiteren Teinahme an echtem L e b e n - ist für für mich das Wichtigste überhaupt
*** editiert von Nafets am Samstag, 14.11.2020, 14:06 ***
Beitrag von
blackeyes (1580 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 16:40.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Lieber Stephan, ich will dir gar nicht groß widersprechen, nur wissen wir aus dem Artikel bzw. von den Erzählungen der Trauernden lediglich dieses: •... der Austausch mit einem älteren Herrn, Mitte 80. Er wollte sich das Leben nehmen nach dem Tod seiner Frau und hat mir einen Satz mitgegeben, der mich sehr berührt bis heute: „Irgendwann kommt der Punkt, an dem Sie sich entscheiden müssen, ob Sie untergehen wollen oder ob Sie weiterleben wollen. Sollten Sie sich fürs Weiterleben entscheiden, müssen Sie aber unbedingt darauf achten, dass es auch wirklich ein Leben ist und nicht nur ein Weiter....•
Wir wissen nicht, ob es ausschließlich sein eigener Überlebenswille war, der ihn davon abgehalten hat, seiner Frau zu folgen oder ob ihm ebenfalls (nur) geraten oder ob er "angefeuert" wurde (weiter - weiter - immer weiter). Wir wissen nicht, wann und wie seine Frau gestorben ist und unter welchen Umständen. Wir wissen nicht, ob der Herr nicht krank war. Wir kennen das Leben der beiden nicht, das sie geführt haben - wir wissen nichts.
Nach dem Tod meines Mannes hat man mir so wie bestimmt jedem zweiten oder dritten Trauernden gute, aber auch fragwürdige Ratschläge gegeben, die ich mir zwar angehört habe, von denen ich aber schon vorher wusste: Danke Leute, alles gut gemeint, aber ich krieg das irgendwie hin, ich muss und ich will, und mag es noch so schwer sein - und wer nicht erlebt hat, was ich erlebt habe, der soll mir keinen Rat geben!
Nun hat ja jener Ratgeber erlebt, was die Trauernde erlebt hat, aber unter - so wie du es ja auch vermuten lässt - vielleicht anderen, oder sehr viel anderen oder ganz anderen Umständen. Das Existenzielle oder von mir aus auch seelisch/wirtschaftliche, ist ein Faktor für sich und ich hatte nicht den Eindruck, dass eine/r der beiden ihn besonders ins Feld geführt hätte. Aber ich kann mich irren - wie schon so oft... Wo noch unmündige Kinder sind, die auf das Leben vorbereitet werden müssen und der Alltag schon allein durch den Wegfall eines Verdienstes ungleich schwerer zu meistern ist, stelle ich mir ein Weiterleben ohne Partner’in selbstverständlich sehr, sehr schwer vor. Die seelischen Qualen in dieser schweren Zeit, die Sehnsucht, die Erinnerungen - all das und mehr - möchte ich gar nicht ansprechen. Und dennoch schaffen es die meisten unter wirklich Mobilisierung aller noch verbleibenden Kräfte irgendwie weiterzumachen, aber sie schaffen es.
Ich glaube, der tatsächliche Wille zu überleben, der Wille zum (Weiter-)Leben, egal in welcher Form, muss einzig und allein aus einem selbst kommen. Wenn das Feuer erloschen und gar kein Antrieb mehr da ist, dann ist es wohl so wie es ist und - der Rat guter „Geber“ fällt selbst dann nicht mehr auf fruchtbaren Boden.
:) blackeyes
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Nafets (674 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 18:45.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Wie mein Post v. 11.11.2020 15:17 zeigen möge, geht es mir nicht allein nur um das F.A.Z.-Interview, sondern das Thema an sich.
*Ich glaube, der tatsächliche Wille zu überleben, der Wille zum (Weiter-)Leben, egal in welcher Form, muss einzig und allein aus einem selbst kommen.* Das ist ein spannender wichtiger Satz, den ich persönlich in dieser Kurzform gerade nicht vorbehaltlos unterschreiben könnte. Das Leben ist zwar, wie es Sansibar völlig zu Recht erwähnte, keineswegs stets nur schön und angenehm. Aber es muss einem doch auch "Anreize" geben und das Gefühl vermitteln, dass es sich lohnt, mit dabei zu bleiben, weil es auch ganz tolle Momente gibt ...
"Kraft", "Ehrgeiz" oder was auch immer einem einfällt - steht in engem Verbund mit "Motivation", und es gibt eben auch Menschen, bei denen zumindest eine motivierende Unterstützung zusätzlich von außen kommen muss, die darauf in unterschiedlichster Form sehr angewiesen sind.
*Wenn das Feuer erloschen und gar kein Antrieb mehr da ist, dann ist es wohl so wie es ist und - der Rat guter „Geber“ fällt selbst dann nicht mehr auf fruchtbaren Boden.* Das stimmt so nicht, wie ich zuverlässig weiß - zumindest durfte ich das glücklicherweise anders erfahren. Das hat mich bisher gerettet, und dafür bin ich sehr dankbar (!).
*** editiert von Nafets am Samstag, 14.11.2020, 18:51 ***
Beitrag von
blackeyes (1580 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 19:57.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
• Das ist ein spannender wichtiger Satz, den ich persönlich in dieser Kurzform gerade nicht vorbehaltlos unterschreiben könnte. Das Leben ist zwar, wie es Sansibar völlig zu Recht erwähnte, keineswegs stets nur schön und angenehm. Aber es muss einem doch auch "Anreize" geben und das Gefühl vermitteln, dass es sich lohnt, mit dabei zu bleiben, weil es auch ganz tolle Momente gibt ... • Sorry, aber ich verstehe nicht, Stephan, was du vermitteln möchtest. Meine Meinung muss a) vorbehaltlos niemand unterschreiben und b) ist mir (in meinem biblischen Alter) eh klar, dass das Leben kein Sonntagsspaziergang ist. Dabei ist es für mich unerheblich, wer diese Tatsache für sich entdeckt hat. Du hast doch selbst noch einmal betont, dass jener ältere Herr, von dem wir nichts wissen, sich das Leben nehmen wollte. Folglich hat ER doch fast keine Anreize mehr in einem Weiterleben gesehen - wer oder was immer ihn dann zur Umkehr bewegt hat. Mir muss man das alles nicht erzählen, denn ich bin immer noch hier, verbrauche immer noch Strom (und CO2 ?).
LG blackeyes
**** "Wenn das Feuer erloschen und GAR KEIN Antrieb mehr da ist, dann ist es wohl so wie es ist und - der Rat guter „Geber“ fällt selbst dann nicht mehr auf fruchtbaren Boden." Das war meine Anmerkung, weil ich glaube, dass selbst Hilfe von außen noch einen winzig kleinen Funken erkennen muss, um Lebenswillen wieder entsprechend anzufachen. Möglicherweise liege ich aber damit vollkommen falsch. ***
*** editiert von blackeyes am Sonntag, 15.11.2020, 13:31 ***
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conny2 (1569 Beiträge) am Samstag, 14.November.2020, 18:54.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
O je, lieber Stephan, da gebe ich es doch - ganz im Gegensatz zu Oliver Kahn - am besten gleich auf, zu versuchen, Dir meine Sicht auf die Dinge ein bisschen näher zu bringen. Und womit wir auch schon bei einem nicht ganz unwesentlichen Unterschied zwischen dem Leben und einem Fußballspiel sind. Letzteres dauert lt. Sepp Herberger bekanntlich 90 Minuten und wer wüsste nicht, dass in der letzten Sekunde noch ein Tor fallen kann? Deshalb hat Oliver Kahn ganz recht damit, seinen Mitspielern das Letzte abzuverlangen. Aber so funktioniert das nicht, wenn die Partnerin/der Partner gestorben ist. Da wäre ich auch dem Oliver Kahn, wenn er versucht hätte, mich vom Aufgeben abzuhalten, vermutlich mit dem Götz von Berlichingen gekommen und hätte das Spielfeld verlassen. Aufgegeben hätte ich freilich nur auf dem Platz, aber nicht im Leben, welches von anderer Qualität ist als ein Fußballspiel, womit ich nichts gegen den Fußball vorbringen möchte, von dem mein Freund im Geist, Albert Camus, sagte, dass er ihm alles verdanke, was er über Moral und Verpflichtung wisse (und was er heute vermutlich nicht mehr sagen würde).
Gleichwohl hat mich der Umstand, dass sich der Ratgeber von Frau Nives Sunara nach dem Tod seiner Frau das Leben nehmen wollte, zwar nicht unbeeindruckt gelassen aber auch nicht elementar berührt. Dies, weil ich zeitnah nach dem Tod meiner Frau einen Text des (verstorbenen) Theologen und Psychologen Yorick Spiegel gelesen hatte, in dem sich die folgende Passage findet:
„In der regressiven Phase ist es eine Zeitlang unentschieden, ob der Lebens- oder der Todestrieb die Oberhand gewinnen wird. Zuweilen gehen beide gewisse Kompromisse ein, die den Trauernden in dem regressiven Zustand auf Dauer fixieren und damit in eine pathologische Trauerarbeit hineinführen. Jedoch setzt sich in den meisten Trauerfällen der Lebenswille durch, aber wie entschieden und wie rasch dies geschieht, kann sehr unterschiedlich sein. Die Entscheidung zu leben ist freilich eine Aufgabe, bei der der Trauernde nicht nur auf die Hilfe der internalisierten guten Objekte, sondern auch auf äußere Unterstützung angewiesen ist.“
Da ist Wahres dran, glaube ich. Es ist daher wohl nicht ungewöhnlich, das sich nach dem Tod der Partnerin Todesgedanken einstellen, die man aber vertreiben kann, was mir vermutlich aus Gründen meiner christlichen Sozialisation sogar relativ leicht gelang. Interessanter und zugleich zu unserem Thema hier passend ist (für mich) der folgende Satz:
„Die Entscheidung zu leben ist freilich eine Aufgabe, bei der der Trauernde nicht nur auf die Hilfe der internalisierten guten Objekte, sondern auch auf äußere Unterstützung angewiesen ist.“
Die Hilfe der „guten internalisierten Kräfte,“ das sind die guten inneren Kräfte, die einen auch im größten Schmerz nicht völlig verlassen, wie z.B. Gottvertrauen und die Gewissheit, dass mit dem Tod nicht alles aus ist und dass ich meine Frau wieder sehen werde. Das ist die Hauptsache. Dazu kommen physische Gesundheit, Selbstvertrauen, auch wenn es oft nur noch Restbestände sind, und alles, was man heute unter Resilienz zusammenfasst, also insbesondere die Fähigkeit, sich durch den Rückgriff auf persönliche und sozial vermittelte Ressourcen selbst zu motivieren und zu stärken. Äußere Unterstützung fand ich v.a. in der Kommunikation mit guten Menschen, auch hier im Forum, die mir das Gefühl gaben, nicht allein zu sein, mit meinem Schmerz, und wofür ich immer dankbar sein werde.
Wenn ich das alles in die Bilanz einstelle, lieber Stephan, dann komme ich mittlerweile ganz gut zurecht, auch ohne mich wie Oliver Kahn aufzuführen und/oder mir ein Spaßteam zuzulegen. Und das Leben spüre ich auch. Zwar anders als vordem an der Seite meiner Frau. Es ist fraglos ein Unterschied, ob man seine Partnerin bei sich oder in sich weiß. Doch so groß ist dieser Unterschied nun auch wieder nicht, dass man deswegen verzagen müsste. Man lebt halt anders, doch es geht. Ein bloßes Weiter ist es jedenfalls nicht, sondern deutlich mehr.
Aber nichts für ungut.
Herzliche Grüße conny2
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Sansibar (185 Beiträge) am Sonntag, 15.November.2020, 20:09.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die
Ich bin nach wie vor der Meinung Trauer hilft einem auf die Füße, weil Trauer m.E. Heilung ist. Wenn ich zurückblicke, war ich anfangs den Toten näher als den Lebenden. Danach kam eine sehr lange Phase, in der ich weder zu den Toten noch zu den Lebenden gehörte. Ich gehörte nirgends mehr hin, so empfand ich das. Ich kreiste, kreiste und kreiste....Das Trauerkreisen wurde aber Immer ein kleines bißchen weniger und meine Lebensgeister erwachten wieder und wurden immer stärker. Dadurch konnte ich mich der Trauer mehr entgegen stellen. Ich würde das aber nicht als besondere Stärke betrachten, sondern einem durchlaufenen Trauerprozess zuordnen. Gruß Sansibar
*Wohlgemerkt hat das bei mir Jahre gedauert und war nicht in wenigen Monaten abgehandelt.
*** editiert von Sansibar am Sonntag, 15.11.2020, 21:19 ***
Beitrag von
annaresi (181 Beiträge) am Mittwoch, 11.November.2020, 21:02.
Re: F.A.Z. Sonntagszeitung 08.11.2020 - Artikel über die "Trauer"
Lieber Stephan, danke für dieses Interview, erst heute Abend finde ich die Zeit und die Muße, es ganz zu lesen. In einigen Äußerungen erkenne ich mich wieder, Anderes erscheint mir eher fremd. In jedem Falle tut es mir aber gut - immer wieder - an den Gefühlen und Gedanken Anderer Anteil nehmen zu dürfen. Annaresi
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