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Von Eva Schläfer
Als ihre Schwester stirbt, fragt sich unsere Autorin, warum sie das weniger trifft als gedacht. Und macht sich auf die Suche nach ihrer eigenen Form des Abschieds.
Ich habe ein Jahr voller Trauer hinter mir. Zumindest theoretisch. Im Sommer 2019 ist meine Schwester gestorben. Plötzlich und unerwartet. Mit 51 Jahren. Vor 100 Jahren hätte sie damit ziemlich genau die durchschnittliche Lebenserwartung einer deutschen Frau erreicht. Nach heutigem Stand wird eine 1968 Geborene im Mittel 73. Meine Schwester ist also eher früh gegangen. Nach landläufiger Meinung ist das ein tiefgreifenderer Verlust als der der 92-jähri-gen Urgroßmutter. Für mich persönlich bedeutet es vor allem, dass mit meiner Schwester das erste Mitglied meiner Kernfamilie gestorben ist. Macht schon allein dieser Umstand die Trauer größer als beim Tod eines ferneren Verwandten? Oder eines Freundes?
Tatsächlich merke ich nach dem ersten Schock: Am meisten setzt es mir zu, ihren Partner und unsere Eltern in ihrem Schmerz zu sehen. Das eigene Kind zu überleben ist für die meisten Eltern eine Tragödie. Auch für unsere. Die Situation ist über Monate belastend – auch wenn sich keiner hängenlässt, wie es so schön heißt. Wenn meine Mutter sagt, dass es ihr heute okay geht, aber die Tage zuvor ganz schwierig waren, merke ich, wie das in mir arbeitet. Unbekümmert bin ich in dieser Zeit ganz sicher nicht. Aber lässt das alleine schon darauf schließen, dass ich trauere? Wenn ich vorab hätte prognostizieren sollen, wie sehr mich der Verlust trifft, hätte ich mir meine Trauer als ein überwältigenderes Gefühl vorgestellt; eines, das mich mehr einnimmt.
Ich hingegen schlafe gut wie immer, habe Appetit, treibe Sport, gehe unter Menschen, verreise und muss mich zu all dem nicht zwingen. Es irritiert mich, dass ich meine Schwester in meinem Alltag nicht vermisse. Angeblich teilen viele Trauernde ihr Leben in ein „Vorher“ und „Nachher“ ein, wenn sie einen nahen Angehörigen verloren haben. Ich aber mache ziemlich genau so weiter wie zuvor. Es gibt vereinzelte Situationen, in denen mich Traurigkeit überkommt. Am Silvesterabend, als ich das Jahr Revue passieren lasse, zum Beispiel. Ich heule Rotz und Wasser, aber das ist das einzige Mal in den ganzen Monaten nach ihrem Tod. Am Neujahrsmorgen habe ich mich wieder beruhigt.
Ich merke, dass es mich beschäftigt, warum ich so fühle, wie ich fühle. Warum trauere ich nicht, wie ich es erwartet hätte?
Meine Überlegungen münden in die Frage, ob ich meine Trauer vielleicht verdränge? Man hört und liest doch immer wieder, dass Menschen das tun. Und würde dazu nicht passen, dass manche Freundin verwundert war, als ich drei Tage nach dem Tod meiner Schwester zu einem beruflichen Termin mit Übernachtung fuhr, den ich ohne weiteres hätte absagen können? Die eine formulierte bedacht und meinte, dass ich mir zu viel zumute. Die andere war direkter und sagte, dass ich nicht weglaufen könne. Ich aber hatte das Gefühl, dass das Wahren einer gewissen Normalität in einer Situation, in der so vieles andere aus den Fugen geraten war, helfen würde. Und so nahm ich die zwei Tage dann auch wahr. Einfach mal nicht ununterbrochen an diese ätzende Lage zu Hause denken zu müssen tat mir gut.
Ich suche im Internet zum Stichwort „Trauer verdrängen“ und bin überrascht, wie unspezifisch die Treffer sind. Ich lese, um mich der Trauer zu stellen, solle ich der Realität ins Auge blicken. Ich würde sagen: Das tue ich. Ich bin mir sehr bewusst, dass mich meine Schwester die ersten 44 Jahre meines Lebens begleitet hat und dass das nun vorbei ist – unwiederbringlich.
Ich lese auch, ich solle über meine Gefühle sprechen. Auch das tue ich. Mit meiner Familie, mit meinem Mann und meinen Freunden rede ich über sie, ehrlich und offen. Totgeschwiegen – was für ein absurder Begriff in diesem Zusammenhang – wird nichts.
Nach der Lektüre neige ich dazu, meinen emotionalen Gemütszustand nicht zu pathologisieren. Sondern erkläre ihn mir so: Ich bin nicht der Typ für die ganz großen Gefühle, bin eher kontrolliert und ausgeglichen und schaue nach vorne. Zudem diagnostiziere ich mir eine gewisse Portion an Resilienz. Und ich bin auch ehrlich genug – und das war ich auch schon zu Lebzeiten meiner Schwester –, um zuzugeben, dass wir uns nicht richtig nahe waren. Wir hatten nie Streit, aber als Erwachsene hatten wir auch nicht viele Anknüpfungspunkte. Wir waren verbunden auf der Basis einer glücklichen gemeinsamen Kindheit und den positiven Erinnerungen daran. Aber seit sie als die Älteste und mir immerhin sieben Jahre voraus das Elternhaus verlassen hatte, war mit Austausch nicht mehr allzu viel. Ausgemacht hat mir das nur wenig. Schließlich gibt’s Freundinnen. Und gleichzeitig war ich mir immer sicher: In schwierigen familiären Situationen würden wir drei – es gibt noch einen Bruder in der Mitte – keine Meinungsverschiedenheiten haben, sondern zusammenhalten. Das genügte mir.
Obwohl mir dieser Rahmen als Erklärung dienen könnte, warum sich meine Trauer in Grenzen hält, rufe ich bei Anette Kersting an. Sie ist Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uniklinik Leipzig. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die anhaltende Trauerstörung, also gewissermaßen das Gegenteil von dem, was mich beschäftigt. Als ich ihr meine Geschichte im Schnelldurchlauf erzähle und sie frage, ob es sein könnte, dass ich meine Trauer verdränge, antwortet sie mir als Erstes, dass ich nach Schuldgefühlen klinge. Ich muss mir eingestehen: Der Gedanke ist nicht abwegig. Dem Partner meiner Schwester und meinen Eltern gegenüber habe ich schon ein zumindest latent schlechtes Gewissen, dass mein Leben viel weniger beeinflusst ist durch den Verlust als ihres. Daher habe ich mir abgewöhnt, ausführlicher über Erlebnisse, an denen ich Freude hatte, zu erzählen – aus Sorge, dass ich sie damit verletzen könnte. Aber hilft es ihnen, wenn sie mich nur mit angezogener Handbremse wahrnehmen? Ich nehme mir vor, das anzusprechen.
Zur Verdrängung sagt die Professorin dann etwas für mich Unerwartetes. Sie weiß zu berichten, dass Verdrängung ein Abwehrmechanismus ist, der von der Psyche und nicht vom Willen dirigiert wird, also ein unbewusster Prozess ist. „Wenn unser seelisches Erleben gefährdet ist, ist Verdrängung eine gewollte Reaktion.“ Heißt: Verdrängen ist erst einmal gar kein Vorgang, den man skeptisch sehen sollte, sondern der hilfreich sein kann. Nur wenn die Verdrängung so massiv und so lang anhaltend sein sollte, dass sie in Folge psychische Probleme auslöst, muss man ihr entgegentreten. Diese Einordnung überrascht mich: Verdrängen ist per se nichts Schlechtes. Das hatte ich bislang anders verstanden – beeinflusst auch durch die meiner Empfindung nach negative öffentliche Konnotation des Begriffs.
Die Ärztin für Psychosomatische Medizin, die in ihrer Laufbahn viele Hunderte Trauernde begleitet hat, berichtet, dass die meisten Menschen Trauer angemessen bewältigen können, nämlich so, dass aus ihr keine psychischen Störungen resultieren. Sie sagt aber auch: „Da wir als Gesellschaft gar keine Erfahrung mehr haben, wie Trauerprozesse aussehen, fällt es uns schwer zu begreifen, dass es eine große Variationsbreite gibt.“ Wir seien geprägt von dem Konzept des Trauerjahres. Wer nach dem Trauerjahr nicht wieder funktioniere, falle aus dem Rahmen.
Die fehlende Kollektiverfahrung mit Trauer bezieht Kersting auch auf die nicht mehr existenten Großfamilien, in denen sich die Generationen umeinander kümmerten und voneinander lernten. Heute sterben Familienangehörige nur noch selten zu Hause. Der Tod ist „outgesourct“ aus den Familien, und die Trauer erhält so weniger Präsenz. Kersting erlebt, dass Trauerprozesse höchst individuell sind, und plädiert dafür, dass „wir tolerant damit umgehen müssen, dass jeder unterschiedlich trauert“.
Speziell Paaren, die ein Kind verloren haben, falle das oft schwer. Frauen hätten in aller Regel ein größeres Bedürfnis, ihre Trauer zu zeigen, und könnten manchmal nicht nachvollziehen, dass der Partner das nicht genauso mache. „Dass man ihm die Trauer weniger anmerkt, bedeutet nicht, dass er weniger trauert. Er bedient sich nur anderer Coping-Strategien.“ Immer wieder gingen deshalb Ehen auseinander. Meine Eltern haben vor ein paar Jahren goldene Hochzeit gefeiert; sie trennen sich nicht mehr. Aber Kersting hat ziemlich genau beschrieben, was sich zwischen den beiden abgespielt hat: die redende Frau, der schweigende Mann.
Einen weiteren Hinweis gibt mir Werner Kahrhof, Bestatter aus Darmstadt, Familientradition seit 1860. Er hat naturgemäß vor allem mit Menschen zu tun, die gerade erst einen Angehörigen verloren haben, und ist daher Experte für erste Trauerreaktionen. Er stellt fest, dass immer mehr Menschen dazu neigen, Rituale rund um den Tod und die Beisetzung wegzulassen, weil der Verstorbene angeblich kein „Brimborium“ wollte. Er aber erlebt, dass es Menschen hilft, sich „anständig“ zu verabschieden, im engsten Kreis am Bett des Toten, gemeinsam mit Freunden und Familie in einer persönlich gestalteten Feier. Und auch dem „Trauerkaffee“ nach der öffentlichen Trauerfeier und Bestattung kommt seiner Erfahrung nach eine wichtige Rolle zu. Das Netzwerk aus Familie und Freunden helfe bei der Trauerbewältigung. „Später ist nichts korrigierbar“, sagt er.
Teil 2 folgt
*** editiert von Nafets am Sonntag, 22.11.2020, 15:51 ***
Dein Beitrag:
Von Eva Schläfer
Als ihre Schwester stirbt, fragt sich unsere Autorin, warum sie das weniger trifft als gedacht. Und macht sich auf die Suche nach ihrer eigenen Form des Abschieds.
Ich habe ein Jahr voller Trauer hinter mir. Zumindest theoretisch. Im Sommer 2019 ist meine Schwester gestorben. Plötzlich und unerwartet. Mit 51 Jahren. Vor 100 Jahren hätte sie damit ziemlich genau die durchschnittliche Lebenserwartung einer deutschen Frau erreicht. Nach heutigem Stand wird eine 1968 Geborene im Mittel 73. Meine Schwester ist also eher früh gegangen. Nach landläufiger Meinung ist das ein tiefgreifenderer Verlust als der der 92-jähri-gen Urgroßmutter. Für mich persönlich bedeutet es vor allem, dass mit meiner Schwester das erste Mitglied meiner Kernfamilie gestorben ist. Macht schon allein dieser Umstand die Trauer größer als beim Tod eines ferneren Verwandten? Oder eines Freundes?
Tatsächlich merke ich nach dem ersten Schock: Am meisten setzt es mir zu, ihren Partner und unsere Eltern in ihrem Schmerz zu sehen. Das eigene Kind zu überleben ist für die meisten Eltern eine Tragödie. Auch für unsere. Die Situation ist über Monate belastend – auch wenn sich keiner hängenlässt, wie es so schön heißt. Wenn meine Mutter sagt, dass es ihr heute okay geht, aber die Tage zuvor ganz schwierig waren, merke ich, wie das in mir arbeitet. Unbekümmert bin ich in dieser Zeit ganz sicher nicht. Aber lässt das alleine schon darauf schließen, dass ich trauere? Wenn ich vorab hätte prognostizieren sollen, wie sehr mich der Verlust trifft, hätte ich mir meine Trauer als ein überwältigenderes Gefühl vorgestellt; eines, das mich mehr einnimmt.
Ich hingegen schlafe gut wie immer, habe Appetit, treibe Sport, gehe unter Menschen, verreise und muss mich zu all dem nicht zwingen. Es irritiert mich, dass ich meine Schwester in meinem Alltag nicht vermisse. Angeblich teilen viele Trauernde ihr Leben in ein „Vorher“ und „Nachher“ ein, wenn sie einen nahen Angehörigen verloren haben. Ich aber mache ziemlich genau so weiter wie zuvor. Es gibt vereinzelte Situationen, in denen mich Traurigkeit überkommt. Am Silvesterabend, als ich das Jahr Revue passieren lasse, zum Beispiel. Ich heule Rotz und Wasser, aber das ist das einzige Mal in den ganzen Monaten nach ihrem Tod. Am Neujahrsmorgen habe ich mich wieder beruhigt.
Ich merke, dass es mich beschäftigt, warum ich so fühle, wie ich fühle. Warum trauere ich nicht, wie ich es erwartet hätte?
Meine Überlegungen münden in die Frage, ob ich meine Trauer vielleicht verdränge? Man hört und liest doch immer wieder, dass Menschen das tun. Und würde dazu nicht passen, dass manche Freundin verwundert war, als ich drei Tage nach dem Tod meiner Schwester zu einem beruflichen Termin mit Übernachtung fuhr, den ich ohne weiteres hätte absagen können? Die eine formulierte bedacht und meinte, dass ich mir zu viel zumute. Die andere war direkter und sagte, dass ich nicht weglaufen könne. Ich aber hatte das Gefühl, dass das Wahren einer gewissen Normalität in einer Situation, in der so vieles andere aus den Fugen geraten war, helfen würde. Und so nahm ich die zwei Tage dann auch wahr. Einfach mal nicht ununterbrochen an diese ätzende Lage zu Hause denken zu müssen tat mir gut.
Ich suche im Internet zum Stichwort „Trauer verdrängen“ und bin überrascht, wie unspezifisch die Treffer sind. Ich lese, um mich der Trauer zu stellen, solle ich der Realität ins Auge blicken. Ich würde sagen: Das tue ich. Ich bin mir sehr bewusst, dass mich meine Schwester die ersten 44 Jahre meines Lebens begleitet hat und dass das nun vorbei ist – unwiederbringlich.
Ich lese auch, ich solle über meine Gefühle sprechen. Auch das tue ich. Mit meiner Familie, mit meinem Mann und meinen Freunden rede ich über sie, ehrlich und offen. Totgeschwiegen – was für ein absurder Begriff in diesem Zusammenhang – wird nichts.
Nach der Lektüre neige ich dazu, meinen emotionalen Gemütszustand nicht zu pathologisieren. Sondern erkläre ihn mir so: Ich bin nicht der Typ für die ganz großen Gefühle, bin eher kontrolliert und ausgeglichen und schaue nach vorne. Zudem diagnostiziere ich mir eine gewisse Portion an Resilienz. Und ich bin auch ehrlich genug – und das war ich auch schon zu Lebzeiten meiner Schwester –, um zuzugeben, dass wir uns nicht richtig nahe waren. Wir hatten nie Streit, aber als Erwachsene hatten wir auch nicht viele Anknüpfungspunkte. Wir waren verbunden auf der Basis einer glücklichen gemeinsamen Kindheit und den positiven Erinnerungen daran. Aber seit sie als die Älteste und mir immerhin sieben Jahre voraus das Elternhaus verlassen hatte, war mit Austausch nicht mehr allzu viel. Ausgemacht hat mir das nur wenig. Schließlich gibt’s Freundinnen. Und gleichzeitig war ich mir immer sicher: In schwierigen familiären Situationen würden wir drei – es gibt noch einen Bruder in der Mitte – keine Meinungsverschiedenheiten haben, sondern zusammenhalten. Das genügte mir.
Obwohl mir dieser Rahmen als Erklärung dienen könnte, warum sich meine Trauer in Grenzen hält, rufe ich bei Anette Kersting an. Sie ist Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie der Uniklinik Leipzig. Einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die anhaltende Trauerstörung, also gewissermaßen das Gegenteil von dem, was mich beschäftigt. Als ich ihr meine Geschichte im Schnelldurchlauf erzähle und sie frage, ob es sein könnte, dass ich meine Trauer verdränge, antwortet sie mir als Erstes, dass ich nach Schuldgefühlen klinge. Ich muss mir eingestehen: Der Gedanke ist nicht abwegig. Dem Partner meiner Schwester und meinen Eltern gegenüber habe ich schon ein zumindest latent schlechtes Gewissen, dass mein Leben viel weniger beeinflusst ist durch den Verlust als ihres. Daher habe ich mir abgewöhnt, ausführlicher über Erlebnisse, an denen ich Freude hatte, zu erzählen – aus Sorge, dass ich sie damit verletzen könnte. Aber hilft es ihnen, wenn sie mich nur mit angezogener Handbremse wahrnehmen? Ich nehme mir vor, das anzusprechen.
Zur Verdrängung sagt die Professorin dann etwas für mich Unerwartetes. Sie weiß zu berichten, dass Verdrängung ein Abwehrmechanismus ist, der von der Psyche und nicht vom Willen dirigiert wird, also ein unbewusster Prozess ist. „Wenn unser seelisches Erleben gefährdet ist, ist Verdrängung eine gewollte Reaktion.“ Heißt: Verdrängen ist erst einmal gar kein Vorgang, den man skeptisch sehen sollte, sondern der hilfreich sein kann. Nur wenn die Verdrängung so massiv und so lang anhaltend sein sollte, dass sie in Folge psychische Probleme auslöst, muss man ihr entgegentreten. Diese Einordnung überrascht mich: Verdrängen ist per se nichts Schlechtes. Das hatte ich bislang anders verstanden – beeinflusst auch durch die meiner Empfindung nach negative öffentliche Konnotation des Begriffs.
Die Ärztin für Psychosomatische Medizin, die in ihrer Laufbahn viele Hunderte Trauernde begleitet hat, berichtet, dass die meisten Menschen Trauer angemessen bewältigen können, nämlich so, dass aus ihr keine psychischen Störungen resultieren. Sie sagt aber auch: „Da wir als Gesellschaft gar keine Erfahrung mehr haben, wie Trauerprozesse aussehen, fällt es uns schwer zu begreifen, dass es eine große Variationsbreite gibt.“ Wir seien geprägt von dem Konzept des Trauerjahres. Wer nach dem Trauerjahr nicht wieder funktioniere, falle aus dem Rahmen.
Die fehlende Kollektiverfahrung mit Trauer bezieht Kersting auch auf die nicht mehr existenten Großfamilien, in denen sich die Generationen umeinander kümmerten und voneinander lernten. Heute sterben Familienangehörige nur noch selten zu Hause. Der Tod ist „outgesourct“ aus den Familien, und die Trauer erhält so weniger Präsenz. Kersting erlebt, dass Trauerprozesse höchst individuell sind, und plädiert dafür, dass „wir tolerant damit umgehen müssen, dass jeder unterschiedlich trauert“.
Speziell Paaren, die ein Kind verloren haben, falle das oft schwer. Frauen hätten in aller Regel ein größeres Bedürfnis, ihre Trauer zu zeigen, und könnten manchmal nicht nachvollziehen, dass der Partner das nicht genauso mache. „Dass man ihm die Trauer weniger anmerkt, bedeutet nicht, dass er weniger trauert. Er bedient sich nur anderer Coping-Strategien.“ Immer wieder gingen deshalb Ehen auseinander. Meine Eltern haben vor ein paar Jahren goldene Hochzeit gefeiert; sie trennen sich nicht mehr. Aber Kersting hat ziemlich genau beschrieben, was sich zwischen den beiden abgespielt hat: die redende Frau, der schweigende Mann.
Einen weiteren Hinweis gibt mir Werner Kahrhof, Bestatter aus Darmstadt, Familientradition seit 1860. Er hat naturgemäß vor allem mit Menschen zu tun, die gerade erst einen Angehörigen verloren haben, und ist daher Experte für erste Trauerreaktionen. Er stellt fest, dass immer mehr Menschen dazu neigen, Rituale rund um den Tod und die Beisetzung wegzulassen, weil der Verstorbene angeblich kein „Brimborium“ wollte. Er aber erlebt, dass es Menschen hilft, sich „anständig“ zu verabschieden, im engsten Kreis am Bett des Toten, gemeinsam mit Freunden und Familie in einer persönlich gestalteten Feier. Und auch dem „Trauerkaffee“ nach der öffentlichen Trauerfeier und Bestattung kommt seiner Erfahrung nach eine wichtige Rolle zu. Das Netzwerk aus Familie und Freunden helfe bei der Trauerbewältigung. „Später ist nichts korrigierbar“, sagt er.
Teil 2 folgt
*** editiert von Nafets am Sonntag, 22.11.2020, 15:51 ***
Hier geht es weiter mit Teil 2:
Ich denke zurück: Bei uns waren die Tage nach dem Tod meiner Schwester mit vielen Absprachen rund um Trauerfeier und Beisetzung gefüllt. Es gab ein langes Gespräch mit dem Trauerredner, dem wir zusätzlich Erinnerungen ihrer Freundinnen mitgaben, damit er diese berücksichtigen konnte. Wir haben am Grab jedem der mehr als 100 Gäste die Hand geschüttelt, was vorher eine beängstigende Vorstellung für mich war, dann aber tatsächlich guttat. Genauso wie das Zusammenkommen danach, erst in einem Restaurant, dann noch im Garten, wo wir uns gemeinsam erinnerten an meine Schwester, ihre fürsorgliche Art, ihre Leidenschaft fürs Reisen, ihr phänomenales Gedächtnis, ihre Begeisterung für Musik und Literatur. Wenn ich der Einschätzung von Werner Kahrhof glauben kann, haben alle diese Handlungen möglicherweise dazu beigetragen, dass ich nicht in Trauer versinke. Gleichzeitig frage ich mich, was das für die Menschen bedeutet, die nun nicht zur Beisetzung von Angehörigen oder Freunden kommen dürfen, da das gegen die Corona-Regeln verstößt.
Und der Bestatter hat noch ein Anliegen: Sich zu Lebzeiten Gedanken zu machen, was passieren soll, wenn man gestorben ist, ist aus seiner Erfahrung ein entlastendes Gefühl – für einen selbst sowie die Angehörigen. Und tatsächlich habe ich vor kurzem entschieden, wie ich bestattet werden möchte. Zudem habe ich eine Vorsorgevollmacht erarbeiten lassen und ein Testament verfasst. Ob mich diese Maßnahmen im Sinne eines „Jetzt ist sichergestellt, dass mein letzter Wille bekannt ist“ entlasten, glaube ich nicht. Aber ich habe begriffen, dass auch sie Teil meiner Trauerverarbeitung sind, damit ich mein Leben glücklich weiterlebe. Ich denke, meiner Schwester würde das gefallen.
*** editiert von Nafets am Sonntag, 22.11.2020, 15:58 ***
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